Kranzniederlegung am Volkstrauertag 2024 in Sossenheim
Volkstrauertag auf dem Friedhof, wir gedenken der Gefallenen aus den beiden Weltkriegen und derer, die in Kriegssituationen leiden. - Ansprache von Lieselotte Bollin für die christlichen Kirchen.
Im nächsten Mai sind es 80 Jahre, dass in Deutschland die Waffen schweigen. Das Ende dieses furchtbaren Krieges, der Millionen von Menschenleben gekostet hat. 80 Jahre ist ein Menschenleben.
Alle, die bis 1945 geboren waren sind entweder bereits verstorben oder sie waren noch Kinder, als der Krieg endete. Die nachwachsenden Generationen, vor allem die jüngeren, sind nicht mehr geprägt von den Erzählungen der Eltern und Großeltern und schon gar nicht vom Erleben einer Kriegsbedrohung. Krieg war immer irgendwo in den letzten 80 Jahren aber die unmittelbare Auswirkung eines Krieges mit Leid und Zerstörung auf das eigene Leben ist nicht mehr fühlbar, nachvollziehbar, weil Krieg immer weit weg war. Korea, Vietnam, Indochina, Naher Osten …
Sollten wir dafür dankbar sein?
Obwohl wir jeden Tag in den Medien schreckliche Bilder aus dem Libanon, aus Israel, aus der Ukraine und Russland, aus Afrika, sehen können, erscheint alles doch weit weg.
Dabei befinden wir uns mitten in einer Zeit des Umbruchs. Unsere westlichen Demokratien sind unmittelbar bedroht durch Diktaturen, die sich mit selbständig denkenden Menschen nicht auseinandersetzen wollen.
Unsere Sicherheit hängt davon ab, ob in Amerika ein selbstherrlicher Narziss an die Macht kommt, ob ein Machthaber wie Herr Putin den Angriff gegen den Westen eskaliert, ob in Syrien, Afghanistan, der Türkei, Menschen zur Flucht getrieben werden oder nicht. In den europäischen Staaten gewinnen die nationalen Parteien an Zulauf, weil man meint, mit Abschottung sei das Problem lösbar.
Ich glaube das nicht.
Die Machtblöcke verschieben und verändern sich. Russland und China gewinnen vor allem in Afrika und Asien an Einfluss und Russland führt einen Cyberkrieg vor allem auch gegen Deutschland.
Die Konflikte auf unserem Planeten haben sich erheblich verschärft. Krieg ist näher gerückt. Der Flüchtlingsdruck auf unsere europäischen Gesellschaften lässt nicht nach. Von überall her kommen die Menschen zu uns, weil hier „noch“ Frieden und Wohlstand herrschen.
Der Zusammenhalt in der Gesellschaft lässt zu wünschen übrig. Einer kämpft gegen den Anderen, anstatt zu helfen, zu unterstützen, gemeinsam Probleme zu bewältigen. Andersdenkende werden gemobbt, beschimpft, im Internet angepöbelt.
Der Staat wird als Versorger betrachtet, ohne darüber nachzudenken, dass dieses Geld von anderen in der Gesellschaft erwirtschaftet werden muss.
Unsere Gesellschaft kann nur stark sein, wenn sich alle für die Gemeinschaft aller verantwortlich fühlen. Wenn eigene Bedürfnisse zugunsten der Allgemeinheit zurückgestellt werden. Dies setzt allerdings voraus, dass alle sich mit diesem Staat identifizieren. Jeder/Jede der/die hier lebt sollte erkannt haben, dass zu unserem demokratischen Staatswesen, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, freie sexuelle Orientierung gehören. Nur wegen dieser Freiheiten können Iraner/Innen auf den Straßen in Deutschland gegen Ihren Staat protestieren und ihr Kopftuch ablegen. Nur deshalb ist es Kurden und Türken möglich, Ihre Meinung frei zu äußern, nur deshalb haben auch die Hitleranhänger die Möglichkeit, laut ihren Unmut kundzutun. Dieses Recht, seine Meinung laut zu äußern, ohne Repressalien fürchten zu müssen, steht allen zu, auch den jeweils Andersdenkenden. Diskussionen gehören zur Demokratie. Meinungen auszutauschen und sich ein Bild von der Meinung des anderen zu machen ist für die eigene Positionsbestimmung essentiell. Das alles ohne Gewalt!
Haben wir das verlernt?
Im Jahr 79 nach Kriegsende in Deutschland sollten wir einen Blick auf den Sinn unseres heutigen Treffens auf dem Friedhof werfen. Wir gedenken zunächst der Opfer der beiden Weltkriege. Viele von uns haben aus der Generation der Eltern oder Großeltern Menschen in diesen beiden verheerenden Kriegen verloren. Vor allem die Rückkehrer und wir, als Nachkriegsgenerationen haben durch Erzählungen und durch die Aufarbeitung der Geschehnisse in Büchern und in Schule und Universitäten an diesen Erlebnissen teilgehabt. „Nie wieder Krieg“ ist die wesentliche Erkenntnis aus den Geschehnissen im vergangenen Jahrhundert.
Leider hat diese Form der Aufarbeitung im Osten Deutschlands nicht genauso stattfinden können, da hier ein diktatorisches System das nächste abgelöst hat.
Zum Glück konnten wir alle bisher im Frieden leben. Wir können nur hoffen, dass das so bleibt.
Wir denken heute deshalb besonders an die, die die Folgen von Krieg und Terror weltweit zu ertragen haben und an die, die ihr Leben in diesen vielen furchtbaren Auseinandersetzungen gestern und heute verlieren mussten.
Ich, als heutige Vertreterin des Christentums hier in Sossenheim, habe Gott noch nicht einmal erwähnt.
Wo ist der Schöpfer dieser Welt in diesen Krisenzeiten. Häufig wird die Frage gestellt: Warum lässt Gott dies alles zu?
Diese Frage ist falsch gestellt. In der Schöpfung ist alles, was wir für ein friedliches Miteinander brauchen, eingewoben. Gott hat uns alles mitgegeben, die Unterscheidung von richtig und falsch, die Erkenntnis, dass wir alle gleich sind vor Gott.
Wir selbst sind es, die das Böse ermöglichen. Es ist nicht das Versagen Gottes oder dass er uns alleine lässt, wir haben diese Verantwortung zu tragen.
Wo Familienmitglieder nicht mehr miteinander sprechen, weil sie sich wegen Nichtigkeiten zerstritten haben, wo Nachbarn aufeinander schimpfen, anstatt miteinander Fragen des Alltags miteinander zu lösen, wo wir Menschen anderer Hautfarbe, Religion oder sexueller Orientierung als minderwertig deklassifizieren, überall dort ist der Beginn von Krieg.
Wir können die Konflikte dieser Welt als Einzelne nicht lösen. Jeder Einzelne von uns kann sich aber bemühen, ressourcenschonend zu leben, Rücksicht auf andere zu nehmen und Meinungsverschiedenheiten friedlich auszutragen. Demokratie und Frieden sind nur zu erhalten, wenn sich alle an die Verfassung und die Gesetze halten und den Willen zum Frieden haben.
Ich möchte schließen mit einem Gebet, das von einem französischen Soldaten im ersten Weltkrieg 1913 formuliert wurde:
Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens,
dass ich liebe, wo man hasst;
dass ich verzeihe, wo man beleidigt;
dass ich verbinde, wo Streit ist;
dass ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist;
dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht;
dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält;
dass ich Licht entzünde, wo Finsternis regiert;
dass ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt.
Herr, lass mich trachten,
nicht dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste;
nicht dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe;
nicht dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.
Denn wer sich hingibt, der empfängt;
Wer sich selbst vergisst, der findet;
Wer verzeiht, dem wird verziehen;
Und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben.
Lieselotte Bollin – Volkstrauertag,